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Medikamente – die ungeliebten Nützlinge

…. oder wie kann man die Risiken der Arzneimitteltherapie bei zunehmendem Alter und gleichzeitig sich häufenden Erkrankungen vermindern und den Nutzen bewahren.

Eine älter werdende Bevölkerung wird begleitet durch die gleichzeitige Zunahme von Mehrfacherkrankungen (Multimorbidität). 2007 erhielten in Deutschland die über 60jährigen 64% der Medikamententagesdosen, obgleich sie nur 27% der gesetzlich Krankenversicherten stellen. Dabei waren die häufigsten Diagnosen: Bluthochdruck, Diabetes, Erkrankung der Herzkranzgefäße, Herzmuskelschwäche und Herzrhythmusstörungen, Lungenerkrankungen, Depressionen, Erkrankungen des Nervensystems sowie Schmerzen und Bewegungseinschränkungen durch Erkrankungen und altersbedingte Veränderungen des Bewegungsapparates. Menschen über 70 Jahre haben häufig mehr als fünf Dauerdiagnosen, viele dieser Erkrankungen können heute durch Medikamente behandelt und gelindert werden. Dass viele Menschen heute bei uns ein hohes Alter erreichen ist sicherlich auch ein Effekt der medikamentösen Therapien. Die gleichzeitige Einnahme von mehreren Medikamenten birgt aber die Gefahr von unerwünschten Arzneimittelwirkungen.

Diese unerwünschten Wirkungen der Arzneimittel können verschiedene Ursachen haben:

  • Es werden durch die Behandlung durch mehrere Ärzte (zum Beispiel Internist, Orthopäde und Neurologe) verschiedene Medikamente verordnet, die sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken oder auch abschwächen.
  • Durch die zusätzliche Einnahme von Lifestylepräparaten, Vitaminen und Erkältungs-, Schmerz- oder Schlafmittel entstehen Risiken. Beispielsweise verstärken die gerne zur Durchblutungsförderung im Gehirn genommenen Gingkopräparate (zum Beispiel Tebonin) das Blutungsrisiko (Hirn-, Magen-, Hautblutung) wenn man gleichzeitig ASS/Aspirin einnimmt.
  • Es können Nebenwirkungen auftreten, die als neue Erkrankungen gedeutet und mit zusätzlichen Medikamenten behandelt werden. Zum Beispiel Parkinsonsymptome bei einem übermäßigen und verlängerten Gebrauch von MCP (Metoclopramidhydrochlorid), das bei Übelkeit und Erbrechen verordnet wird.
  • Mit zunehmendem Alter wird die Nieren- und Leberfunktion schwächer und der Abbau von Medikamenten verlangsamt sich.
  • Mit zunehmendem Alter nehmen das Körpereiweiß und der Körperwasseranteil ab, der Fettanteil nimmt zu. Das bedeutet zum Beispiel für wasserlösliche Medikamente, wie das Digoxin (Herzmittel), das der ältere Patient 30 % weniger des Wirkstoffes benötigt als der jüngere. Für eine fettlösliche Substanz, wie das Diazepam (Valium), dauert die Ausscheidung der Hälfte des Wirkstoffes im Normalfall 24 Stunden, bei älteren Menschen dagegen 90 Stunden. Medikamente, die an Körpereiweiß gebunden werden, wie zum Beispiel Diclofenac (Voltaren), können in einer niedrigeren Dosis gegeben werden, da durch das geringere körpereigene Eiweiß im Alter weniger Wirkstoff gebunden wird und der freie Wirkstoff somit höher ist.
  • Es kann eine erhöhte Empfindlichkeit, wie zum Beispiel Müdigkeit bei Antihistaminika (Allergiemittel), oder eine verminderte Empfindlichkeit auf zum Beispiel Betablocker (Herz- und Blutdruckmedikament) auftreten.
  • Die Gegenregulationsmechanismen können gestört werden. So kann zum Beispiel  nach verschiedenen verabreichten blutdrucksenkenden Medikamenten ein zu starker Blutdruckabfall eintreten.
  • Es können paradoxe Reaktionen auftreten, wie zum Beispiel ein Erregungszustand nach Beruhigungsmitteln oder extreme Müdigkeit nach Koffein.
  • Es kann zu Verwechslungen bei der Medikamenteneinnahme kommen, hervorgerufen durch Seh-, Erkennens- und Merkfähigkeitsstörungen, aber auch durch eingeschränkte Geschicklichkeit. Die Verwechslungen werden begünstigt durch Verpackungen, die sich ständig ändern (Stichwort Rabattverträge) und, ungeachtet der verschiedenen Hersteller, fast identisch beschriftet sind. Dazu kommen noch schlecht handhabbare Blisterverpackungen (Tablettenverpackungen, bei denen sich die Alufolie schlecht ablösen lässt) und „kindersichere“ Tropfen, die schlecht geöffnet und abgezählt werden können.
  • Eine ungenügende häusliche Versorgung und/oder soziale Einbindung des betroffenen Patienten kann ebenfalls zu Problemen bei der Einnahme von Arzneimitteln führen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft über 65jährige als betagt ein und spricht bei über 84jährigen von Hochbetagten, diese rein kalendarische Einteilung genügt auf keinen Fall für eine Einschätzung des Risikos unerwünschter Medikamentenwirkung. So gibt es heute eine große Zahl 80jähriger ohne wesentliche Einbußen in ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten, und andere, die bereits mit 65 jegliche Autonomie über den eigenen Körper und Geist verloren haben. Wichtig ist daher, das Risiko und den Nutzen der Medikamentenverordnung für jeden Patienten individuell einzuschätzen.

Das Ziel bei chronisch kranken Patienten mit Mehrfacherkrankungen ist nicht die „maximale“ Behandlung jeder einzelnen Diagnose. Der Schwerpunkt soll insbesondere auf der Aufrechterhaltung oder Wiedererlangung der allgemeinen Funktionsfähigkeit im Alltag liegen. Was nützt ein intensiviert eingestellter Diabetes mellitus mit einem fast normalen HbA1c Wert (Blutzuckerlangzeitwert), wenn einmal in der Woche der Notarzt zur Behandlung der Unterzuckerung (Hypoglykämie) kommen muss oder der Patient stürzt und sich einen Knochenbruch zuzieht.

Die medikamentöse Behandlung von Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen (Multimorbidität) muss an den jeweiligen Gesamtzustand, die Organfunktionen und die geistigen Fähigkeiten angepasst werden. Sie muss die Lebenserwartung und die individuelle Lebenssituation in ihrer ganzen Komplexität berücksichtigen. Dies ist die wichtige Aufgabe für den betreuenden Arzt – den jeweiligen Hausarzt, der bei unseren französischen Nachbarn es vielleicht treffender als „Familienarzt „ bezeichnet wird.

Wie kann man als Patient unerwünschte Arzneimittelwirkungen vermeiden:

  • Überprüfen Sie die Liste der verordneten Medikamente zusammen mit Ihrem Arzt bei jedem Praxisbesuch.
  • Zeigen Sie Ihrem Arzt auch die Präparate, die Sie von anderen Ärzten verordnet bekommen haben.
  • Bringen Sie auch die Mittel mit, die Sie in der Apotheke oder Drogerie etc. gekauft haben.
  • Setzen Sie Prioritäten: Nur leichte Gelenk- und Muskelbeschwerden oder Schlafstörungen z.B. müssen nicht unbedingt mit Tabletten behandelt werden.
  • Bestimmte Medikamente, die dauerhaft eingenommen werden, erfordern die regelmäßige Kontrolle bestimmter Blutwerte im Labor, lassen Sie sich von Ihrem Arzt beraten.
  • Beginnen Sie eher mit niedrigen Dosierungen.
  • Achten Sie darauf, dass Medikamente, die keine Wirksamkeit zeigen, auch wieder abgesetzt werden.
  • Ganz Wichtig: Besprechen Sie die Liste der Medikamente nach stationärem Aufenthalt im Krankenhaus gleich nach der Entlassung mit Ihrem Hausarzt.

Darüber hinaus sehen wir Ärzte im Praxisnetz auch die Gefahr von Verwechslungen bei der Medikamenteneinnahme, da in den Apotheken an Stelle des verordneten Präparats auf dem Rezept häufig Nachahmermedikamente (Generika) ausgegeben werden: Die Packungen mit dem gleichen Wirkstoff sehen unterschiedlich aus. Die Verpackungen der einzelnen Hersteller sehen sich zum Verwechseln ähnlich, obwohl unterschiedliche Wirkstoffe enthalten sind.
Um hier eine Verbesserung für die Patientensicherheit zu erreichen, bietet sich die Konzentration auf wenige zuverlässige Generikahersteller an.

Dr. med. Hans Jörg Werner, Praxis Oberursel
FA Innere Medizin, Geriatrie, Physikalische Therapie
Ehemaliger CA der Geriatrie des Ev. KH.Elisabethenstift Darmstadt
Dr. med. Jörg Odewald, Praxis Steinbach
FA Innere Medizin, Pneumologie, Notfallmedizin,
Notarzt, Institut für Notfallmedizin, Klinikum Darmstadt